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Erfahrung? Überschätzt!




An was denken Sie, wenn Sie das Wort Routinier hören? Mein Gehirn spuckt aus: graue Schläfen, selbstsicherer Blick, marineblaues Sakko und souveräne aber sparsame Gesten. Ziemlich männlich? Eine weibliche Form gibt es nicht. Und vielleicht ist das ausnahmsweise mal ein Kompliment an uns Frauen...


Nicht, dass ein Routinier an sich etwas Negatives wäre. Schließlich ist alles, was wir routiniert tun, etwas Geübtes. Jeder Handgriff sitzt blind. Gefährliche Klippen, die umschifft werden müssen, sind längst bekannt und in der Karte des Lebens eingezeichnet. Das Schiff fährt ruhig, fast wie von selbst, denn die Hand des Kapitäns ist sicher. Bei Seglern oder anderen Sportlern, soll sich die Erfahrung eines perfekten Bewegungsmusters durch ständiges Wiederholen in das Körpergedächtnis einbrennen. Dann kann selbst bei höchstem Stress, die beste Leistung abgerufen werden. Aber sonst so – im ganz normalen Leben. Ob in Beziehungen oder Beruf: macht uns Erfahrung wirklich so viel besser...?


Ich bin jetzt 53. Habe begeistert und intensiv gelebt. Grenzen nach oben und unten ausgelotet. Seit zwanzig Jahren verantworte ich die ELLE. Ich liebe meinen Job, mein Team, mein Leben. Und meistens auch mich. Für all das bin ich sehr dankbar. Aber mit der Erfahrung stehe ich im Moment auf Kriegsfuß...


Vieles verändert sich gerade in einem zügigen Tempo. Da draußen in der Welt. Und auch in mir hier drinnen... Das bedeutet: es kann etwas großes Neues losgehen... Und ich glaube das es das wird es. Dafür möchte ich aber auch gerne ein neues Denken. Dinge, die mich an manchen Ecken und Enden festhalten, loslassen. Das Einzige, was mir dabei öfters in die Quere kommt? Erfahrungen! Ich denke viel über sie nach. Und dabei sind mir 4 Dinge klar geworden:


  1. Erfahrungen werden schnell als Wahrheiten genommen. Schließlich sind sie auch eine persönlich gelebte Wahrheit. Aber eben nur eine. Ein einmaliger Teil eines Prozesses. Trotzdem hat diese persönliche “Wahrheit” eine starke Wirkung. Je emotionaler sie ist, desto näher ist sie uns - wächst zu einer Lehre. Und dann zu einer beliebten Summe: je mehr Erfahrungen, je mehr Wahrheiten, je mehr Lehren. Ist gleich mehr Reife? Das wird ohne böse Absicht besonders von den älteren Generationen gerne genommen. Ist aber ein Trugschluss. Denn diese Erfahrungen sind auch ein Käfig. Machend den Blick für Neues eng. Sind per se niemals offen und unvoreingenommen. Und die oft ordentlich selbstsichere Perspektive der Reife verliert gerne die Demut vor Überraschungen und Veränderungen im Fluss des Lebens.

  2. Schlechte Erfahrungen lassen der Seele eine Hornhaut wachsen. Echte Enttäuschungen, ob im Job oder in Beziehungen zu anderen Menschen, tun weh. Wir lernen aus der Erfahrung solcher Verletzungen: “Nie wieder!” Heißt: ähnliche Situationen vermeiden. Ohne Zweite Chance. Die Schürfwunden des Lebens verheilen und bilden eine dicke Hornhaut unter denen ein ängstliches Muster liegt. Und schaffen wir es damit dann jeder Enttäuschung aus dem Weg zu gehen? Nein. Denn keine Situation ist wie die andere. Nur weil wir einmal betrogen wurden, muss das beim nächsten Deal nicht so sein. Und eine geglückte zweite Chance lässt alte Wunden oft verheilen statt nur vernarben. Vorsicht ist ok. Aber schlechte Erfahrungen machen oft Misstrauen zum Fundament dafür. So oder so: beim unvoreingenommenen Ausprobieren lernen wir definitiv mehr. Immer.

  3. Gute Erfahrung schaffen den Glaubenssatz: mehr davon! Aber wie bei einem besonders köstlichen Dessert: mehr davon, macht es nicht besser. Albert Einstein hat gesagt: alte Probleme lassen sich nicht mit altem Denken lösen. Ich finde er hat recht. Und unzählige Firmengeschichten erzählen vom tiefen Tälern oder Scheitern durch langlebigen Erfolg. Denn das, was gestern sensationell funktioniert hat, kann in einer schnellen komplexen Welt, schon morgen das Problem sein. Wenn die alten Erfahrungen aber nicht greifen, dann tritt bei Routiniers schnell Verleugnung, dann Hilflosigkeit, Enttäuschung, Verzweiflung ein. Das nehmen widerspenstige Leben wird aus Unverständnis schnell persönlich genommen. Autsch!

  4. Alles was Routine ist, ist sicher. Aber Sicherheit bedeutet auch: Komfortzone. Und dort entsteht selten eine bahnbrechende Dynamik oder Innovation. Dort lernen wir nichts Neues, gibt es keinen Grund an uns zu arbeiten. Das ist Gift für die Entwicklung. Und wenn Sie sich jetzt fragen, was denn an Entwicklung & Neuem so wichtig ist, dann schauen Sie mal aus dem Fenster: wir stehen nämlich vor einer der herausragendsten Veränderungen seit langer langer Zeit.


Pfeife ich jetzt also auf Alles was ich gelernt habe? Bin ich sauer auf meine Erfahrungen des Lebens? Nein! Aber ich habe beschlossen mich davor zu hüten, mich auf sie zu verlassen. Denn sie sind Medaillen mit zwei Seiten...

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