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AutorenbildSabine Nedelchev

Die „Entweder-Oder-Falle“

Aktualisiert: 15. Feb. 2021

Es wurde uns früh eingeimpft: man kann nicht alles haben. Dafür hat aber alles seinen Preis. Wir müssen uns entscheiden. Entweder oder. Oder alles ist verloren...?


Solche Sätze haben Widerhaken: „..Du kannst nicht alles haben. Entscheide Dich. Es ist Entweder/Oder“. Sie sind im Kindesalter noch ein paar kleine Bauklötze. Aber mit den Jahren wachsen sie zu Wolkenkratzern, in deren Schluchten unsere Freiheit versinkt. Möglichkeiten schrumpfen. Die Entwicklung eingesperrt wird.


Nehmen wir doch mal den Fahrstuhl zum Rooftop. Von dort oben wird klar: der Horizont ist unendlich. Es gibt nicht nur den Norden oder den Süden. Wir können uns im Kreis drehen. Und der Blick reißt nie ab. Es ist ein Panorama ohne Anfang und Ende. So ist doch, das Leben: alles geht - nichts steht. Fest schon gar nicht.


Es ist vermutlich gut, wenn wir immer wieder diesen Panoramablick des Lebens wie ein Sportler trainieren. Besser jeden Tag eine halbe Stunde als einmal die Woche drei davon. Wiederholung macht Muster. Ich jedenfalls brauche das tägliche Bootcamp. Denn mir kommt jener Blick immer mal wieder abhanden. Verliert sich in der unbewussten Routine (von Müll rausbringen bis E-Mail-Eingang löschen) oder Puzzleteilen des Alltags (wie kriege ich bloß noch diesen Call unter?). Und schon ertappe ich mich in den Entweder-Oder-Fallen: Ich bin erfolgreich oder habe Zeit. Esse Kohlenhydrate oder Kale. Bin ein Glückskind oder Trauerkloß, Hure oder Heilige... Wer hat bloß all die krassen Polaritäten in unsere Köpfe gebracht? Die Sicherheit, die gerne alles in Schubladen sortiert hat? Die Angst also...

Entweder-Oder bedeutet immer Verzicht auf mindestens eine Sache. Wenn es gut läuft, wenigstens zugunsten einer anderen. Aber warum nehmen wir Menschen den Verlust hin? Was ist der Gewinn daran? Ich habe keinen gefunden. Wohl aber ein strenges Regiment von Bewertungen und harte Preis-Leistung-Deals. Die lauten ungefähr so: „Es gibt nichts umsonst. Gratis ist nur der Tot. Glück, Sporen und Meriten muss man sich verdienen.“ Ideen, die uns wohl davor bewahren sollen abzuheben. Die sicherstellen, dass wir im Job, der Partnerschaft, im Sport, bereit sind, Kompromisse zu machen beim Raum für unser eigenes Glück. Aber immer bereit sind kompromisslos über unsere Grenzen hinweg zu leisten. Die, die Recht haben wollen, weil sie vielleicht nicht viel anderes haben, bedienen sich am liebsten beim Entweder-Oder, bei Schwarz und Weiß, Gut und Böse, richtig und falsch. Schließlich macht es die Welt leichter zu lenken (Kirche, Führung) und einfacher zu verstehen (Moralvorstellungen der Gesellschaft) wenn die feinen Nuancen von Grau einfach ausgeblendet werden. Und ohne das autoritäre Entweder-Oder-Denken kämen wir am Ende noch auf die Idee zu sagen: Wieso soll ich mich entscheiden? Ich will beides!

Denn Verzicht ist das Gegenteil von Fülle. Und somit nicht natürlich. Oder haben Sie schonmal einen Wolf auf Diät gesehen? Jedenfalls hinterlässt die ausschließende Entscheidung für mich meist ein leeres, schales Gefühl. Wenn ich richtig hin spüre etwas Tieferes: einen Zweifel.


Dennoch glaube ich: zum Glück ist das Leben viel größer. Und schließt nichts gegeneinander aus. Das sehen wir überall, wenn wir die Augen nach dem Aufstehen ein zweites Mal bewusst öffnen: wir sind eben genau nicht Feigling oder Held. Sondern immer auf dem Weg. Abwechselnd beides. Sowohl als auch.

Wenn ich mich daran erinnere - an mein „Sowohl-als-auch-Mantra“ - muss ich sofort lächeln. Weil es mich so sehr entspannt. Ich bin auch ok, wenn ich in der vermeintlichen Schlucht zwischen den unterschiedlichen Polen lebe. Nicht nur ok, sondern ein Mensch im besten Sinne - lebendig! Die Gegensätze habe ich mir ja schließlich nicht selbst ausgedacht. Und dass ich auf dem dünnen Seil zwischen ihnen meine Balance suche, macht mich nicht zu einer Irren. Sondern zu einer Seil-Künstlerin. Oder vielleicht viel besser: Sowohl als auch!



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